Eine Begebenheit in Eriador während des Dritten Zeitalters

niedergeschrieben von Turin Orbelaina

Nach Jahren komme ich nun endlich noch einmal dazu, ein paar Zeilen zu schreiben. Ich habe mich in den letzten Wochen mit einigen teils recht merkwürdigen Gefährten umgeben, und es sind inzwischen so viele wichtige Dinge geschehen, die ich niederschreiben muss.

Alles begann vor etwa zwei Monaten in Bree.
Im letzten Herbst hatte ich eine kleine Gesellschaft in den Westen geleitet. Eine hübsche, junge Sinda-Fürstin, deren Name hier nichts zur Sache tut, einschließlich ihres Gefolges, war dem Ruf nach Valinor gefolgt. Den Winter hatte ich dann wie so oft bei Cirdan verbracht. In diesem Winter sprach Cirdan erstmals von Feanor und seinen Werken. Glücklich diejenigen, denen es vergönnt war, den Glanz der Silmarils zu sehen. Der Schiffmeister sprach auch von den Palantiri, die seiner Ansicht nach auch Werke von Feanor sind. Über diese wunderbaren Schöpfungen sprachen wir sehr viel, und Cirdan äußerte die Vermutung, daß sich einer dieser kostbaren Steine in Amon Sul befunden haben muß.
Dieser Gedanke ließ mich daraufhin nicht wieder los. In den folgenden Wochen überlegte ich mir, daß die Hüter eines solchen Kleinods ihren Schatz nicht leichtfertig preisgeben würden, und schätzte daher die Möglichkeit groß, der Stein könne sich noch immer in den verlassenen Mauern von Amon Sul befinden. Mit dem ersten Tauwetter verließ ich die grauen Anfurten Richtung Osten.

Ich beschloß in Bree im Gasthaus "Zum Tänzelnden Pony" erste Erkundigungen über die Gegend um die Wetterspitze herum einzuholen. Im Gasthaus begegnete ich zu meiner nicht allzu frohen Überraschung einem mir bekannten Waldläufer. Ich war Aldhenadar in den letzten Jahren an Thranduils Hof einige Male flüchtig begegnet, so daß er mich jetzt bereits fast als einen guten Freund ansah, was ich nicht so ohne weiteres erwidern würde. Er ist zwar ganz umgänglich, aber er erzählt zu oft und zu viel von seiner "Vergangenheit". Trotzdem kamen wir ins Gespräch.
Offenbar hatte auch er Interesse an einer Erkundung der Ruine. Zwei Reisende sind in gefährlichem Gebiet wehrhafter als einer, und so zogen wir gemeinsam los. Wir hatten Bree kaum hinter uns gelassen, als uns auf der Großen Oststraße ein einzelner Reisender begegnete: ein stämmiger wortkarger Zwergenkrieger, den wir an seinem vornehmen Gehabe als einen Angehörigen des Fürstengeschlechts von Moria erkannten. Er stellte sich als Draupnir vor, und es fiel uns nicht schwer, seine Leidenschaft für Gold und andere Schätze zu wecken. So waren wir zu dritt.

Die Reise auf der Straße ging schnell voran. Wenige Tage später, an der Abzweigung zum Pfad, der auf die Wetterspitze hinaufführt - wir brachen gerade unser Lager ab - trat geräuschvoll aber unerwartet plötzlich eine Gestalt aus dem Unterholz. Bevor noch einer von uns reagieren konnte, sprudelte der Fremde los und hielt eine Rede, die er mit dem Handzeichen des Friedens einleitete. Er stellte sich vor als Hardir aus Dorwinion. Seinen eigenen Angaben nach mußte er seine Heimat verlassen, aufgrund eines Sakrilegs (diese Menschen haben seltsame Sitten) und einer darauffolgenden Prügelei. Angeblich war er dann vom Meer von Rhun aus über Dal und anschließend geradewegs durch Angmar geflohen. — Wenn ich sein tölpelhaftes Erscheinen bei uns bedenke, erscheint es doch als äußerst wundersam, daß er diese Reise unbeschadet überstanden hat. - Seine Kleidung aber, die ihn trotz der Spuren der langen Reise als Animisten auswies, schien seine Geschichte zu bestätigen. Er redet viel.

Hardir konnte uns einige nützliche Informationen über die Gegend liefern, da er sie kaum erst durchwandert hatte. Seine Abenteuerlust und sein Redeschwall waren so gross, dass wir ihn in unsere Gemeinschaft aufnahmen. Zu viert schlugen wir also den Fußpfad ein. Wir waren ständig wachsam und wagten nachts kein Feuer anzuzünden. Unsere Nervosität war derart, daß wir eines nachts einen überflüssigen Kampf mit einer Wolfsfamilie eingingen und die Tiere erschlugen. Das Jungtier war auf uns aufmerksam geworden und hatte sich neugierig unserem Lager genähert. Hätten wir uns ruhig verhalten, wäre es wahrscheinlich wieder im Gebüsch verschwunden.
Zuletzt lagerten wir knapp unterhalb von Amon Sul, und beschlossen im Morgengrauen die Ruine zu erkunden. Diese Aufgabe fiel mir zu. Ich schlich mich bis an die halbverfallene Mauer heran. Ich erkannte eindeutige Anzeichen dafür, dass der Turm zur Zeit behaust wurde, konnte aber keine der Bewohner ausmachen. Alles schien ruhig, und ich gab meinen Gefährten ein Zeichen mir zu folgen. Aldhenadar schloss fast bis zu mir auf, jedoch Draupnir strauchelte über eine Wurzel und Hardir rutschte aus und fiel mit einem Aufschrei hintenüber. Ich konnte gerade noch etwas von "unsichtbar" verstehen, als meine Aufmerksamkeit auch schon auf ein anderes Ziel gelenkt wurde. Denn plötzlich öffnete sich das rechte Tor des Turms, und drei Orks stürmten schreiend heraus und auf uns zu. Der Lärm musste sie aufgeschreckt haben.
Uns blieb keine Zeit zum Fliehen oder Nachdenken. Es war ein kurzer Kampf, in dem wir unsere Feinde — inzwischen war ein vierter Ork herausgekommen - schliesslich töteten. Allerdings kamen wir nicht ohne die Hilfe des Schutzgeistes aus, den zu rufen ich vor langer Zeit auf einer meiner Reisen gelernt hatte. Und auch so wäre es beinahe um mich und den Zwerg geschehen gewesen, hätte nicht Aldhenadar unsere Wunden versorgt.

Wir erholten uns jedoch allesamt schnell von dem Handgemenge. Da erst fiel uns auf, dass Hardir nicht mehr bei uns war. Er mußte kurz vor dem Kampf geflohen sein. Schliesslich machten wir uns daran, den Turm zu erforschen. Im Innenhof entdeckte ich, Yavanna sei Dank, einen Strauch mit einer Handvoll Mirenna-Beeren. Wir nahmen jeder je eine dieser heilenden Früchte zu uns, den Rest verwahrte ich in meinem Beutel.
Draupnir und ich versuchten dann, das rechte Tor zu öffnen, was uns nicht gelang. Wie hatten die herausstürmenden Orks bloß das Tor wieder verschlossen? Beim Versuch das linke Tor zu öffnen stürzte Draupnir in eine mit Dornen gespickte Fallgrube. Glücklicherweise zog er sich nur ein paar Prellungen zu. Inzwischen hatte Aldhenadar versucht, durch eine verfallene Fensternische in den Turm zu gelangen. Dabei hatte er aber einen Stolperdraht übersehen, und war Hals über Kopf ins Innere gestürzt, was ihm einige blaue Flecken bescherte.

Wir befanden uns in einem halbkreisförmigen Raum, dessen Rundung die Aussenmauer darstellte. In der Mitte der Wand vor uns befand sich eine Wendeltreppe, rechts davon eine verschlossene Tür. Gemeinsam mit Aldhenadar stieg ich vorsichtig die Treppe hinunter, während Draupnir sich an der Tür zu schaffen machte. Wir hatten gut die Hälfte der Treppe geschafft, als sich der Waldläufer plötzlich an mir vorbeidrängte, um nach unten zu gelangen. Mit einemmal hörte ich ein fürchterliches Getöse und sah nur noch Staub aufwirbeln. Offenbar war die Treppe durch einen Fallenmechanismus gesichert gewesen, und ein Teil der Decke hatte sich gelöst und war auf den Menschen herabgestürzt. Sofort eilte ich hinterher.
Als ich den benommenen Aldhenadar vom Geröll befreit hatte, bemerkte ich, daß sein rechtes Bein im Oberschenkel ein zusätzliches Gelenk bekommen zu haben schien. Ich blickte mich in dem Kellerraum um. An den Wänden entlang standen einige Feldbetten, in der Mitte des Raumes ein Tisch mit Resten von Getränken und zweifelhafter Nahrung. Ich zerlegte eines der Betten, verfrachtete den Waldläufer auf ein anderes, und begann sein Bein zu schienen. Gegen die Schmerzen flößte ich ihm reichlich von einer alkoholischen Flüssigkeit ein, die ich vom Tisch genommen hatte.

Bei näherer Betrachtung des Raums bemerkte ich eine grosse, interessant aussehende Truhe. Als es mir nicht gelang das Schloß zu öffnen, besorgte ich mir aus herumliegendem Gerümpel eine Eisenstange und zertrümmerte die Kiste kurzerhand. Darinnen befanden sich allerlei Waffen und Rüstungsgegenstände. Während ich diese inspizierte, vernahm ich aus der oberen Etage ein Rumpeln, als versuche jemand eine hölzerne Tür einzuschlagen. Kurz darauf, ich hatte mich gerade auf einem der Betten niedergelassen um zu ruhen, tönte ein Ruf durch das alte Gemäuer. Der fröhliche Animist verkündete lauthals seine Rückkehr!

Nach einer Weile erschienen die Gefährten in dem kleinen Kellerraum, und ich muBte feststellen, daß unsere Gemeinschaft auf wundersame Weise gewachsen war. Nachdem der Zwerg mit einigen gezielten Schlägen seines Kriegshammers eine dünne Holztür zertrümmert hatte, war ihm bei der Erkundung des dahinterliegenden Raumes eine seltsame Fremde begegnet: eine Wasa, ein wildes Wesen aus den südlichen Wäldern mit dem erstaunlich wohlklingenden Namen Kala—Beni-Ga. Ebenso hatte Hardir, nachdem er sich spontan zur Erkundung der weiteren Umgebung der Wetterspitze entschlossen hatte, eine neue Bekanntschaft gemacht. Er war im Gehölz einem Korsaren (einem Korsaren!) begegnet. Er sagte er hiesse Antheador und gab sich als Magier aus. Was sein rohes Äusseres und sein ungeschliffenes Benehmen betraf, so schien zumindest seine Herkunft gewiss.

Die allgemeine Erregung war groß, und in das Durcheinander platzte plötzlich ein großer Wolf. Nach einigem hektischen Gefuchtel und Gemetzel lag er schließlich tot zu unseren Füßen.

Immer noch aufgedreht machten wir uns an die weitere Erforschung des Ortes. Ein schmaler Durchgang führte aus dem Raum in dem wir uns befanden heraus, ein paar Stufen hinab in eine natürliche Höhlung. Die Hälfte des Bodens war von Kies bedeckt, die andere weiter zurückliegende von Wasser. Dies schien ein natürlicher unterirdischer Teich zu sein. Vorn Ufer aus ließ sich am nicht allzu tiefen Grund mit einiger Mühe ein diffuses Glitzern ausmachen. Zusätzlich glaubte ich eine undeutliche Bewegung zu erkennen. Mit einem Seil gesichert tauchte ich hinab, obschon mir nicht wohl dabei war. In zwei Tauchgängen holte ich eine Handvoll Goldmünzen und einen Juwelen (den ich für mich behielt) vom Grund des Teichs, als sich plötzlich meine Vorahnungen bestätigten, und ich von einigen Zitteraalen angegriffen wurde. Zu meinem Glück reagierte Draupnir prompt und zog mich herauf. Während ich erschöpft und benommen auf dem Kies lag und meine Sinne wiederzuerlangen suchte, unternahm Hardir einen weiteren Tauchversuch. Es gelang ihm eine kleine hölzerne Kiste an die Oberfläche zu befördern. Darin befanden sich drei Blatt beschriebenes Runenpapier! Erstaunlich, dass die Blätter den Aufenthalt im Wasser unbeschadet überstanden hatten.

Wir beschlossen die restliche Nacht zur Ruhe zu nutzen. Zuvor gelang es mir, eine Diskussion über unsere weiteren Ziele anzuregen. Schließlich kamen wir zu der mündlichen Obereinkunft, eine lose Gemeinschaft zu bilden, in der erworbene Güter dem Gemeinwohl zukommen, und in der jeder den Gefährten zu Beistand verpflichtet ist. Zwar sahen wir unsere Vereinbarung als bindend an, räumten jedoch gleichzeitig jedem das Recht ein, die Gruppe unter noch festzulegenden Bedingungen jederzeit verlassen zu können.

Am nächsten Morgen einigten wir uns nach kurzer Beratung darauf in Richtung zum letzten Gasthaus aufzubrechen. Unsere Absicht war es, einige Tage dort zu verbringen, bis es uns gelang, Aldhenadars Beinbruch zu heilen. In der Befürchtung eine Orkpatrouille könne jederzeit in der Turmruine auftauchen, brachen wir sogleich auf. Draupnir, Hardir, Aldhenadar (auf einer Trage)‚ Kala und Antheador zogen in südöstlicher Richtung los, während ich mich nach Bree aufmachte, wo ich mein Reittier zur Pflege im Tänzelnden Pony zurückgelassen hatte. Nach etwa einer Woche holte ich die Gruppe ein. Die Reise ging jetzt schnell voran, und nach wenigen Tagen erreichten wir ohne Zwischenfall das Gasthaus.

... und wie geht es weiter?